Karoline Schreiber - Die Zeichnung

 

Mara Graf, 27. Juli 2020

 

Sie kann so unscheinbar und doch so wichtig sein. Sie erscheint in der Kunst als Hilfsmittel im Schaffungsprozess oder steht als eigenständiges Kunstwerk. Sie begegnet uns unwichtig im Alltag oder als ausgewähltes Objekt in einer Ausstellung. Ich spreche von der Zeichnung. Sie begleitet unsere Gesellschaft schon seit Beginn. Höhlenzeichnungen als Zeitzeugnis, Zeichnungen als Entwurfsmedium der Renaissance oder aber auch Kritzeleien während eines Telefonats sowie einfache Kinderzeichnungen – der Begriff und das Wesen der Zeichnung hat sich mit der Kunst und mit der Geschichte der Gesellschaft immer wieder gewandelt und unterschiedliche Gestalten angenommen. Die Zeichnung ist ein intimes Medium. Sie entsteht intuitiv aber beinhaltet ebenso das Rationale und Intellektuelle des Machers.

Ich möchte in diesem Beitrag eine Schweizer Künstlerin vorstellen, die mit den Möglichkeiten und wandelbaren Erscheinungen der Zeichnung arbeitet und diese erforscht. Ihr Name ist Karoline Schweizer und es ist unmöglich ihr Werk in einem
Blogg-Post zusammenzufassen. Im Zuge ihres explorativen Vorgehen arbeitet sie mit vielfältigen Motiven, Techniken, Strategien, Bildsprachen und Produktionsbedingungen. Sie hat bewusst keinen persönlichen Stil. Die Künstlerin zeichnet überall, in allen erdenklichen passenden und unpassenden Situationen, jeden Tag. Über 50 Skizzenbücher hat sie mittlerweile gefüllt mit ihren täglichen «automatischen Zeichnungen». Die Einträge zeichnet sie immer mit dem gleichen Stift im gleichen Buchformat. Entstanden ist die Idee als ihr zweites Kind zur Welt kam und die Bücher ihr im Alltag als transportables Atelier dienen sollten. Das einst Spielerische entwickelte sich zu einem sehr komplexen, produktiven Bild- und Ideenfundus. Die Einträge definierte sie von Anfang an als Zeichnungen und nicht als Skizzen. Dadurch haben sie der Stellenwert einer eigenen Werkgruppe erhalten. Andererseits bilden die Zeichnungen aber auch eine Ressource für ihre künstlerische Produktion. Einzelne Motive und Strukturen finden ihren Weg auf grössere Formate oder in fortlaufende Serien wie zum Beispiel «Drawing Account» oder «Zeichnugnen».

Eintrag im Skizzenbuch
Krankhafte Hochstimmung – «Drawing Account»

 

Eintrag im Skizzenbuch
Decent shit NO. 15, NO. 14, NO. 6, NO. 3

 

Übung                          Meet and Greet
Immer geht es um Vertuschung oder Darlegung & Fur II

 

Die ursprünglich «automatischen Zeichnungen», wie Karoline Schreiber ihre alltägliche Skizzenbucheinträge nennt, nehmen Bezug auf die surrealistische Technik «écriture automatique». Dies ist eine Methode des Schreibens, bei der die Gefühle, Bilder und Ausdrücke möglichst unzensiert und ohne Eingriff des kritischen Ichs wiedergegeben werden. Für die Zeichnungen von Karoline Schreiber bedeutet
das, dass sie zufällig, nebenbei in allen möglichen Alltagssituationen ganz ohne Leistungsdruck entstehen. Ihre Zeichnungen passieren. Ganz intuitiv kommen die Einträge aus dem Unterbewussten. So finden sich Figuren, Text, Pflanzen, Gegenstände, Wirkliches und Unwirkliches, Skurriles und Realistisches in ihrem Skizzenbuch wieder.

 

Zeichnungen aus dem Skizzenbuch

 

Als weitere Möglichkeit der Zeichnung beschäftigt sie sich auch mit Performance. Sie zeichnet mit verbundenen Augen und während es dunkel ist. Sie zeichnet mit beiden Händen simultan oder nur mit links. Sie zeichnet worüber Experten reden oder während Musik gespielt wird und in anderen aussergewöhnlichen Situationen. Dabei interessiert sie sich für das Unmittelbare, Flüchtige, Wandelbare, Lebendige und auch für die Frage, ob eine Zeichnung eine ähnliche Wirkung wie zum Beispiel Musik haben kann, wenn sie unmittelbar auf der Bühne ausgeführt wird.

Es fasziniert mich sehr wie spontan, ungezwungen und experimentierfreudig Karoline Schreiber ihre Kunst ausübt. Sie erforscht nicht nur die verschiedenen Richtungen der Zeichnung, sondern auch sich selbst, die Kunstindustrie, Ästhetik, andere Künstler, unsere Gesellschaft und es scheint dabei keine Tabus zu geben. Einerseits beherrscht sie die Technik, um hyperrealistische Gemälde und Zeichnungen in altmeisterlicher Präzision anzufertigen und andererseits spielt sie mit Text im Comicartigen Stil, mit den Titel ihrer Gemälde, mit Karikaturen und Performances. Ich empfehle deshalb dringend auch ihre anderen Projekte zu betrachten und zu studieren. Ihre Produktion ist durchzogen von solch unterschiedlichen Projekten und Herangehensweisen, die zum Denken und Diskutieren anregen. Einen Überblick gibt ihre Website mit ihrem Portfolio und einer Monografie.

 

 

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Dieser Artikel war stark inspiriert vom Buch "FINGERS LIKE TOES" von Karoline Schreiber, Mirjam Fischer, Barbara Zürcher (Herausgeberinnen), The Green Box (Publisher) Texte von Yasmin Afschar, Mirjam Fischer, Martin Glauser, Karoline Schreiber, Barbara Zürcher, 2019

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